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    Der menschliche Orientierungssinn -

    Psychische und physiologische Aspekte

     

Auszug aus Diplomarbeit an der Technischen Universität München + Ergänzungen

                               siehe auch Weibliche Orientierung / female orientation 

 

 

 

 

1 - die spontane Entstehung von Orientierungsmodellen

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Wenn ein Blinder einen Raum erstmalig betritt, tastet er ihn in der Regel zunächst mit seinem Stock einige Male ab. Erstaunlicherweise kann er danach seinen Stock ablegen und sich in diesem Raum frei bewegen. Wie ist das möglich?

Die Antwort ist einfach: sein Wahrnehmungssystem hat ein Orientierungsmodell dieses Raumes entwickelt, das sogar die Länge des Stockes berücksichtigt. Sein Bewußtsein ist auf Sensoren angewiesen, die sich an der Hand befinden, nicht an der Stockspitze. Ein ähnlicher Vorgang findet statt, wenn wir rückwärts einparken: es ist so, als wäre die hintere Stoßstange ein Teil von uns.

Bei geradlinigen Bewegungen tut sich dieser Blinde ohne Stock relativ leicht. Lediglich nach einer Drehung verliert sein Orientierungsmodell den Bezug. Wie alle Menschen hat er keinen inneren Kompaß. Nach der Drehung versucht er mit Hilfe seiner Hände einen neuen Bezug für sein Modell zu finden. Findet er den Bezug nicht, so ist er VÖLLIG orientierungslos. Wird z. B. ein Stuhl entfernt, der in seinem Modell als Bezug galt, so entspricht das für ihn einer Orientierungsberaubung, die einen Unfall verursachen kann.

Wenn wir eine Fahrt vorbereiten, entstehen in unserem Wahrnehmungssystem auf ähnliche Weise bewußt oder unbewußt gleich mehrere Orientierungsmodelle und zwar wie folgt:

 

 

sunside-Modell

beim bloßen Betrachten einer Straßenkarte assoziieren wir spontan, daß das Sonnenlicht während der Fahrt "von unten" (Süden) kommen wird. Die Personen aus der südlichen Erdhälfte assoziieren das Sonnenlicht mit Norden also "von oben".

Sehen wir z. B. auf einer Karte, daß wir wie im Bild zunächst auf eine Autobahn nach Süden fahren müssen und sich unser Ziel aber westlich der Autobahn befindet, so prägt sich in unserem sunside-Modell, daß zunächst das Sonnenlicht von vorne kommen MUSS und beim Verlassen der Autobahn die Sonne sich scheinbar nach links drehen WIRD.

 

 

outstanding point-Modell: bei einer Fahrtvorbereitung suchen wir spontan auf der Straßenkarte nach einprägsamen Bezugspunkten wie einem Turm, einem Wasserfall, einer Stadt etc. und assoziieren z. B., daß dieser Punkt sich in Fahrtrichtung rechts befindet. 

Verliert ein Autofahrer die Orientierung, so müßte er eigentlich anhalten. Das tut er jedoch aus diversen Gründen selten, z. B. weil er nicht angehupt werden will. Normalerweise versucht er eine Richtung zu erraten, wobei er dann erst recht die Orientierung verlieren kann. Früher oder später werden die spontanen Modelle herangezogen. Sieht der Fahrer, daß die Sonne bzw. der Bezugspunkt links statt rechts steht, so versucht er instinktiv, sein Modell durch Gegensteuern, d. h. durch Umkehrung der Fahrtrichtung zu entsprechen. Dieser Vorgang dauert nur Sekunden.

So wird man unverschuldet zum Geisterfahrer.

 

 

2.    Die rätselhafte Stabilität der visuellen Welt

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Wenn wir im täglichen Leben hin und her blicken wandert naturgemäß das Abbild der Umwelt gleichzeitig über die Netzhäute unserer Augen. Dieser Vorgang ist mit dem Schwenken einer Videokamera vergleichbar, jedoch mit einem gewaltigen Unterschied: während im Monitor der Kamera sich die Umwelt zu bewegen scheint, bleibt für uns nach einer Augendrehung die Umwelt stabil !!!

 

 

Nehmen wir an, Sie schauen wie abgebildet zur Tür. Das Fenster wird demgemäß an der Peripherie der Retina abgebildet sein. Sehen Sie sich dann das Fenster an, wandert das Abbild der Tür zur Peripherie. Eigentlich müßten Sie den Eindruck gehabt haben, eine Kulisse wäre seitlich verschoben worden. Das visuelle System vollbringt jedoch eine erstaunliche Leistung: es unterdrückt die sogenannte retinale Verschiebung.

 

Die Natur hat uns zwar mit Kameraaugen ausgestattet, aber gleichzeitig eine noch unerforschte komplexe Informationsverarbeitung vorgesehen, damit wir nicht bei jeder Augenbewegung getäuscht werden. Sonst könnten wir uns aufgrund der UNwahr-Nehmung nicht orientieren. Das visuelle Wahrnehmungssystem muß mit Bildmodellen arbeiten, die wesentlich komplexer sind als die Orientierungsmodelle: auch Farbe und Formdetails müssen dort gespeichert sein.

Wissenschaftlich steht folgendes fest: alle willkürlichen Augenbewegungen sind sprunghaft und werden Sakkaden genannt. Alle Bildinformationen, die während einer Sakkade eintreffen, werden ignoriert. Sehr vereinfacht ausgedrückt, das visuelle System "friert" vor der Sakkade das Bild ein und vergleicht es mit dem Bild das danach angeboten wird. Gleichzeitig ergeht ein Korrekturbefehl an das Orientierungsmodell:

 

"das Auge hat sich um 5 (bzw. 10) Grad nach links bewegt, korrigiere das Orientierungsmodell um 5 (bzw. 10) Grad nach rechts".

 

Es ist eindeutig bewiesen, daß die Information über die Winkelgröße nicht aus den Augenmuskeln entnommen wird, dies wäre zu langsam. Eine favorisierte Theorie besagt, die Winkelgröße wird aus der Intention entnommen, sie ist ja diejenige Kraft die die Augenmuskeln steuert.

 

Diese komplexe Verarbeitung funktioniert jedoch nur bei beabsichtigten (intentionalen) Augenbewegungen ! Versuchen Sie es selbst: drücken Sie mehrmals mit dem Finger so gegen Ihr Augenlied, daß sich das Auge bewegt. Dann wird sich das Auge verhalten wie wir es von einer Kamera erwarten: die Umwelt wird sich scheinbar bewegen, was einer Täuschung gleichkommt, einer UNwahr-Nehmung.

 

Dreht ein Augenarzt Ihr Auge mit einer Pinzette, so werden Sie ein Schwenken der Umwelt erleben. Solange Sie das andere Auge noch beherrschen, verlieren Sie die Orientierung nicht. Werden jedoch beide Augen in verschiedenen Richtungen bewegt, widersprechen sich die dem Wahrnehmungssystem zugeführten Informationen. Es entsteht einen Orientierungskollaps und Sie müssen mühsam lernen sich wieder zu orientieren, wie nach einem Tragen von Umkehrbrillen.

Diese Darstellungen aus der visuellen Welt sollen untermauern, daß es für unser Wahrnehmungssystem ein sehr großer Unterschied ist ob

 

    wir eine Richtungsänderung vornehmen, weil sie uns näher ans Ziel bringt und in unserer Fahrtvorbereitung und somit in unseren Orientierungs-modellen eingeplant war 

    oder

    wir gezwungen werden, eine unvorhergesehene Richtungsänderung vorzunehmen.

 

 

 

 

3. Die natürliche Winkelorientierung:

     Punkt + Richtung

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Es ist wenig darüber bekannt, wie der Mensch orientierungsrelevante Informationen im Gedächtnis speichert. Einig sind sich die Wissenschaftler jedoch, daß diese Speicherung fast ausschließlich winkelbezogen ist: Rechts ist ein Winkel zur Fahrtrichtung, Osten ist ein Winkel zu Norden. Wir verhalten uns sozusagen als wären wir in einem U-Boot und hätten zur Orientierung nur ein Periskop. Dabei beziehen wir uns fast immer auf die obere Seite des Stadtplanes / der Straßenkarte./ des Bildschirmes / der Tastatur etc. Im Unterbewußtsein merken wir uns den WINKEL zwischen Bezugsrichtung und Zielrichtung.

 

Wir suchen herausragende OrientierungsPUNKTE und bilden RICHTUNGEN, die von dort ausgehen, wie z. B. 

     vom Turm aus, nach Südwesten bzw. "unten links"

und merken uns aber den WINKEL. Falls sinnvoll, wird diese Orientierunghilfe mit einer Entfernungsangabe ergänzt. An Ort und Stelle versuchen wir dann, diesen Winkel zu REKONSTRUIEREN, in unserem Beispiel mit der unterbewußten Eselsbrücke "Norden rechts hinten liegen lassen".

 

Weil bis jetzt noch niemand  auf die Idee kam, topographische Anzeigen anzubringen oder Schilder so zu gestalten, daß ein Bezug zum Stadtplan / Straßenkarte / Globus / unseren spontanen Orientierungsmodellen hergestellt werden kann (field-to-map relation), müssen wir uns als Autofahrer riskante Bezugsrichtungen aussuchen, z. B.:

    "von der Ausfahrt aus   in FAHRTRICHTUNG links"

    "nach der Kreuzung lasse ich die SONNE (den TURM etc.)     links liegen"

 

was schließlich das Geisterfahren regelrecht provoziert, falls wir die Orientierung verlieren und diese Anhaltspunkte dann aber nicht zutreffen. Schilder, die nur Namen enthalten, erlauben die Korrektur von Orientierungsmodellen nur mit einer zeitraubenden Detektivleistung. Eine einzige topographische Anzeige dagegen, egal welche, würde schnell helfen. 

 

Literaturhinweise:

H. Köhler - Bau einer Versuchsapparatur zur Messung der Lokalisation bei willkürlichen Augenbewegungen - Diplomarbeit an der TU München 1977

Brune, F. Optomotorik, Bewegungswahrnehmung und Raumkonstanz der Sehdinge - Der Nervenarzt, 40, 413-421 (1969)

Bridgemann, B. Failure to detect displacement of the visual world during saccadic eye movements   -  Vision Res. 15, 719-722 (1975)

Mittelstaedt, H  Regelung und Steuerung bei der Orientierung des Lebewesens- Regelungstechnik 2, 88-101 ( 1954 !!)

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Orientierungsberaubung /  Recht auf topographische Orientierung

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Folgendes Gesetz wäre somit im Sinne der Erhöhung der Straßenverkehrssicherheit:

 

Präambel:

(1) Die Natur hat für den Menschen keinen inneren Kompass vorgesehen. Eine unfreiwillige Drehung des Menschen um seine vertikale Achse stellt eine Orientierungsberaubung und eine Verletzung der Menschenwürde dar.

(2) Ein Fahrgast, dessen vertikale Achse während der Fahrt um mehr als 90 Grad gedreht wird, erfährt seitens des Transportunternehmens eine AKTIVE Orientierungsberaubung. 

(3) Der Benutzer eines Gebäudes bzw. einer Straßenverkehrseinrichtung, der aufgrund der räumlichen Gegebenheiten gezwungen wird, seine Bewegungsrichtung um mehr als 90 Grad zu ändern, erfährt seitens der Eigentümer eine PASSIVE Orientierungsberaubung, .

(4) Ein Besucher aus der anderen Erdhälfte irrt sich grundsätzlich beim instinktiven Orientieren nach der Sonne.

(5) Jede Beschilderung, die Richtungen nur im Zusammenhang mit zufällig entstandenen Namen anzeigt, stellt eine unwürdige Belastung dar für

- Kurzsichtige, z. B. Albinos, die Texte nicht mehr lesen aber Symbole noch deuten können

- schüchterne Personen, z. B. Frauen und Kinder, die fürchten Fremde ansprechen zu müssen

- Ausländer, die keinen Weg in der Lokalsprache erfragen können (Sie im Ausland?)

- Sprach- und Hörbehinderte, auch Stotterer, die schwerlich sprachlich kommunizieren und somit bei Verlust der Orientierung den Weg kaum erfragen können

- Personen, die schon nach wenigen Richtungsänderungen die Orientierung verlieren,

- Analphabeten, die Namen nicht lesen können (Sie in Japan, Russland, Iran?)

- Personen, die Karten mangelhaft beherrschen oder diese nicht bereit haben.

- Ortsunkundige / Touristen, die ausgeschilderte Namen nicht kennen

- Personen mit mangelhaftem Gedächnis für Namen,

- Farbblinde etc.

 

(6)   Senkrecht aufgestellte Pläne verlangen seitens der Benutzer eine imaginäre Transferleistung in die Horizontale und meistens anschließend eine imaginäre Drehung bis zur Übereinstimmung mit den Himmelsrichtungen, geben aber keine Auskunft über Größe und Richtung dieser Drehung. Das Zielobjekt rechts im Bild kann somit vorne, hinten oder gar links sein. Im Laufe der Jahre verliert mancher Benutzer das Vertrauen in seinen Fähigkeiten, Karten lesen zu können, somit nutzt er ein wichtiges Orientierungswerkzeug kaum, sehr zum Nachteil des Straßenverkehrs insgesamt.

(7) Im Straßenverkehr stellen desorientierte Menschen eine Gefahr für das Leben und körperliche Versehrtheit aller Beteiligten dar  (Grundgesetz Artikel 2 (2) ).

 

GESETZ:

"Jeder Bürger hat ein Recht auf topographische Orientierung.

Das aktive oder passive Erzwingen einer Änderung der Bewegungsrichtung eines Menschen stellt eine Orientierungsberaubung dar, die nach Beendigung der erzwungenen Richtungsänderung durch Anzeige von topographischen Bezugsrichtungen zur Wiederherstellung der Orientierung kompensiert werden muß.

Jeder senkrecht aufgestellter Plan muß eine Anzeige enthalten die Auskunft darüber gibt, wie er nach dem imaginären Transfer in die Horizontale imaginär gedreht werden muss, damit dieser himmelsrichtungskonform interpretiert werden kann. "